PRAKTIKUMSBERICHT

Grundpraktikum: Erziehungswissenschaften/ Sozialpädagogik
Pax Christi - Freiwilligendienst in Flüchtlingslagern
in Split/Kroatien und Zenica/Bosnien
September 1995 - August 1996
Tabea Köbsch
Dresden 4. Semester

1 Darstellung der Institution

1.1 Pax Christi - Geschichte und Entstehung

Noch vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges versammelten sich katholische Frauen und Männer in Frankreich, um für die Versöhnung mit Deutschland zu beten. Im Frühjahr 1945 unterzeichneten 40 französische Bischöfe einen Aufruf zu einem „Gebetskreuzzug für die Versöhnung mit Deutschland und den Frieden in der Welt“. In diesem Rahmen und vor dem Hintergrund der Schrecken und Wunden des gerade erlebten Krieges entstand Pax Christi. „Gemeinsames Gebet und die versöhnende Kraft des Friedens Christi (lat.: pax christi) sollten verfeindete Menschen und Völker zusammenführen und die Chance einer gemeinsamen Zukunft eröffnen.“ [A→] [→A] aus der Selbstdarstellung von Pax Christi, Bad Vilbel 2000 Der Aufruf verbreitete sich schnell auch in Deutschland und es kam zu ersten deutsch-französischen Begegnungen. Im Verlauf des ersten internationalen Friedenskongresses von Pax Christi wurde am 3. April 1948 der deutsche Zweig von Pax Christi gegründet.
Nachdem sich auch in einigen anderen westeuropäischen Ländern Sektionen gebildet hatten, wurde Pax Christi 1952 von Papst Pius XII. offiziell als internationale katholische Friedensorganisation anerkannt. In den ersten Jahren verstand sie sich vor allem als eine geistliche Bewegung. Im Mittelpunkt des Engagements standen die Bemühung und Bitte um Vergebung, versöhnende Gesten und die Förderung von Friedensgesinnung und Friedenserziehung. Es wurden internationale Treffen und Kongresse, Jugendbegegnungen und sogenannte „Sühnewallfahrten“ durchgeführt. Deutsche Mitglieder von Pax Christi regten schon in den fünfziger Jahren Partnerschaften zwischen französischen und deutschen Städten und Gemeinden an. Der vorwiegend geistliche Charakter der Bewegung verband sich allerdings bis dahin nicht mit der Dimension politischen Handelns für Frieden und Versöhnung. Erste Ansätze für einen Wandel ergaben sich aus der Beratung von Kriegsdienstverweigerern Anfang der sechziger Jahre. So wurde innerhalb von Pax Christi ein Solidaritätsfont für Lateinamerika gegründet und die mit der polnisch- deutschen Versöhnung einsetzende Ostarbeit zu einem Schwerpunkt der siebziger und achtziger Jahre. Seit Beginn der siebziger Jahre bestehen intensive Kontakte mit Israel, die mittlerweile im Zeichen der doppelten Solidarität mit Israel und Palästina stehen. Zusammen mit anderen Gruppen und Initiativen versuchte Pax Christi, Themen wie die Risiken der Atomenergie, Umweltschutz, die Unterdrückung der Menschen in den Ländern des Südens und die Gefahren der Rüstung ins Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken. Zentrale Anliegen hierbei waren vor allem der Einsatz für Abrüstung, die Kampagne gegen Rüstungsexporte und die Unterstützung von Kriegsdienstverweigerung. Mit dem Ende des Ost-West- Konflikts entstand insgesamt eine neue Situation, die auch Auswirkungen auf die Friedensarbeit von Pax Christi hatte. Einerseits hatten mit dem Ende des Kalten Krieges auch dessen Abschreckungsstrategien ein Ende und erlebten viele Staaten Osteuropas neue Freiheit, andererseits erstarkten nationalistische und fundamentalistische Bewegungen, brachen neue Konflikte und Kriege aus (am Golf, in Ex-Jugoslawien). Angesichts dieser Probleme bemüht sich Pax Christi vor allem darum, den Opfern von Krieg, Flucht und Vertreibung beizustehen. Die Konfrontation mit dem Krieg in Kroatien und Bosnien- Herzegowina, mit den anhaltenden Menschenrechtsverletzungen und der Politik der „ethnischen Säuberungen“ hat innerhalb der Organisation auch dazu geführt, sich intensiver mit den Chancen und Grenzen gewaltfreier Handlungsmöglichkeiten auseinanderzusetzen. Als Konsequenz daraus engagiert sich Pax Christi verstärkt für die Ausbildung und den Einsatz ziviler Friedensfachkräfte in Konflikt- und Krisengebieten und ist seit 1997 selbst anerkannter Träger für Friedensfachdienste in Bosnien.

1.2 Struktur der Organisation

Pax Christi ist als katholische Friedensbewegung regional, überregional und international tätig. Weltweit hat sie ca. 80 000 Mitglieder, in Deutschland waren es 1998 offiziell 5300 Mitglieder.
Das regionale Engagement von Pax Christi wird von Gruppen vor Ort getragen, die ihr Gruppenleben und ihre Arbeit weitgehend selbst gestalten und sich eigene Arbeitsschwerpunkte wählen. Manche Gruppen sind Pfarrgemeinden angeschlossen, andere arbeiten innerhalb eines Ortes. Einige Gruppen in größeren Städten sind studentisch geprägt, die überwiegende Mehrheit allerdings ist Generationen- und Milieuübergreifend zusammengesetzt. In jedem Bistum existiert ein eigenes Leitungsteam, welches die regionale Arbeit koordiniert.
Auf Bundesebene wird Pax Christi durch das Präsidium vertreten. Die zentrale Aufgabe des Präsidiums besteht in der Vertretung der Anliegen von Pax Christi in der kirchlichen und politischen Öffentlichkeit. Die einzigen hauptamtlichen Mitglieder der Organisation arbeiten im Sekretariat in Bad Vilbel, welches zugleich Koordinations- und Servicestelle ist. Gewählte Fachkommissionen arbeiten zu zentralen Schwerpunkten: Wirtschaft/ Entwicklung/ Ökologie, Rüstungswirtschaft, Flucht und Asyl, Zivile Friedenspolitik, Friedensdienste, Nahost sowie Rechtsextremismus/ Nationalismus/ Antisemitismus. Die jährlich tagende Delegiertenversammlung ist das oberste beschlußfassende Gremium von Pax Christi. Hier werden die Mitglieder des Präsidium und der Kommissionen gewählt sowie Arbeitsprogramme beschlossen.
Auf internationaler Ebene ist Pax Christi auf allen Kontinenten aktiv. Eigene Nationale Sektionen existieren in 25 Ländern. Koordiniert werden die weltweiten Aktivitäten vom Internationalen Sekretariat in Brüssel. Pax Christi international ist eine anerkannte Nichtregierungsorganisation, die bei den vereinten Nationen, UNESCO, UNICEF und dem Europarat vertreten ist.
Aktuelle Kampagnen und Projekte von Pax Christi sind u.a.:

1.3 Pax Christi - Friedensdienste in Ex-Jugoslawien

Auf einen Aufruf der Antikriegskampagne Zagreb hin begann Pax Christi im September 1992, freiwillige Helfer in kroatische Flüchtlingslager zu vermitteln. Nach dem Übergreifen des Krieges auf Bosnien-Herzegowina flohen Hundertausende Flüchtlinge nach Kroatien, wo sie zwar notdürftige Unterkünfte beziehen konnten, es aber so gut wie keine Sozialbetreuung vor allem für Kinder und Jugendliche gab. Bald hatte sich die Arbeit der Internationalen Teams auf über zwanzig Flüchtlingslager in Kroatien ausgedehnt, was zusehends zu einer Überforderung der kroatischen Organisatoren führte. Aus diesem Grunde übernahm Pax Christi 1994 die eigenständige Verantwortung für vier Flüchtlingslager in der Region Split. Auch die Anwerbung und Vorbereitung von Freiwilligen lag seit dem in den Händen von Pax Christi und wurde in der Hauptsache von ehemaligen Freiwilligen ehrenamtlich geleistet. Neben deutschen Freiwilligen arbeiteten regelmäßig auch Freiwillige aus Dänemark und Luxemburg für Pax Christi. Die Mindesteinsatzdauer betrug drei Wochen, oft arbeiteten Freiwillige aber auch mehrere Monate in einem Flüchtlingslager. Schwerpunkt der Arbeit blieb weiterhin die allgemeine Sozialbetreuung, vor allem aber die Betreuung von Kindern und Jugendlichen. Es wurde eine hauptamtliche Koordinatorenstelle für die Projektleitung vor Ort eingerichtet, zu deren Aufgaben die Betreuung der Freiwilligen, die Förderung von einkommenschaffenden Maßnahmen und Wiederaufbauprojekten sowie politische Lobbyarbeit zählten. Nach dem Ende des Krieges in Bosnien- Herzegowina und dem Friedensvertrag von Dayton im Dezember 1995 begann Pax Christi auch in Bosnien zu arbeiten. Hier war die Not der Flüchtlinge ungleich größer als in Kroatien. In der zentralbosnischen Stadt Zenica eröffnete die Organisation ein zusätzliches Koordinierungsbüro. Anfangs konzentrierte sich die Arbeit der Freiwilligen vor Allem auf Flüchtlinge, die notdürftig in Schulen und Kindergärten untergebracht waren, da hier die Zustände am schlimmsten waren. Nachdem diese durch die lokalen Behörden geräumt worden waren, übernahm Pax Christi die Betreuung von zwei großen Flüchtlingslagern in Zenica. Außerdem arbeitete die Organisation in dem mehrheitlich von Flüchtlingen bewohnten Dorf Begov Han, in dem sie ein Begegnungszentrum aufbaute und eine Schreinerei unterstützte, die zum Wiederaufbau zerstörter Häuser dienen soll.
Seit 1997 engagiert sich Pax Christi im Forum ZFD (Ziviler Friedens Dienst) für das Modellvorhaben einer Ausbildung in ziviler Konfliktbearbeitung. Zwei Absolventinnen des ersten Ausbildungskurses begannen Ende 1997 die Pax Christi-Arbeit in Banja Luka, der Hauptstadt der Rebublika Srpska. Inzwischen werden auch die Projekte in Zenica und Begov Han von ausgebildeten Friedensfachkräften geleitet. Neben internationalen Freiwilligen arbeiten jetzt vor allem lokale Mitarbeiter in den einzelnen Projekten. So können Einheimische in ihrer Verantwortung gestärkt und in die Arbeit eingebunden werden. In Zenica konnte Pax Christi 1998 das erste größere Wiederaufbauprojekt starten, durch welches vor allem Wohnungen für Rückkehrer aus Deutschland, aber auch für Roma und Sozialfälle geschaffen werden konnten. Aber auch den Binnenflüchtlingen wird mit einem speziellen Rückkehrhilfeprogramm bei der Rückkehr in ihre Heimatorte zu helfen versucht. So hat sich im Laufe der Zeit ein Wandel in der Tätigkeit von Pax Christi in Bosnien vollzogen - weg von humanitärer Hilfe und Betreuung innerhalb der Flüchtlingslager hin zu einer zukunftsorientierten und lokal vernetzten Gemeinwesenarbeit.

2 Darstellung der eigenen Tätigkeit

2.1 Allgemeines Anliegen des freiwilligen Friedensdienstes

Das Spezifische der Pax-Christi- Einsätze besteht vor allem in dem „Mit- leben“ mit den Flüchtlingen, dem Teilen ihrer Lebensumstände und nicht vorrangig darin, materielle Hilfe zu leisten. Wichtig ist auch die Lobby- Funktion für Flüchtlinge. So hat die Anwesenheit von internationalen Freiwilligen in Kroatien, wo seit dem Krieg ein ausgeprägter Nationalismus herrscht, in Einzelfällen muslimische Flüchtlinge vor Behördenwillkür geschützt. Die Einsätze sind ein - wenn auch bescheidenes- Zeichen der Solidarität mit den Opfern des Krieges.
Nicht zuletzt vermitteln die zurückkehrenden Freiwilligen in ihrem persönlichen Umfeld in Deutschland ein differenzierteres Bild vom Krieg auf dem Balkan als die Medien. Sie sind so Teil einer Gegenöffentlichkeit, indem sie konkrete Erfahrungen zivilen Handelns gegen den Krieg vermitteln.
Trotzallem standen wir Freiwilligen den Schrecken des Krieges ohnmächtig gegenüber. Fast alle Flüchtlinge bringen fürchterliche Erfahrungen mit, die sie „irgendwie“ verarbeiten müssen. Die Freiwilligen haben meist keine fachliche Kompetenz, um den traumatisierten Menschen beizustehen, außer der menschlichen Kompetenz.
Im Folgenden möchte ich zunächst meine Einsatzorte und deren spezifische Lebensbedingungen für die Flüchtlinge kurz vorstellen, bevor ich näher auf meine eigentlichen Tätigkeitsbereiche eingehen werde. Diese Reihenfolge wähle ich, da ich es für wichtig erachte, die Freiwilligenarbeit immer auch vor dem Hintergrund der konkreten Bedingungen der verschiedenen Flüchtlingslager zu sehen.

2.2 Meine Einsatzorte- Vorstellung der Flüchtlingslager und deren Spezifika

Während meines Freiwilligeneinsatzes lebte und arbeitete ich nacheinander in drei Flüchtlingslagern. Neben der Arbeit vor Ort pflegten wir auch regelmäßige Kontakte zu anderen Lagern, welche sich aber oft auf die Arbeit mit Kindern und die Organisation von Verteilungen beschränkten.

„Melioracija“, Split, Kroatien

Meine erste Station war das Flüchtlingslager „Melioracija“ in Split. Die dalmatinische Stadt Split, an der Adria gelegen, war während des Bosnien- Krieges das Ziel vieler Flüchtlinge, die teils privat, meist aber in Sammelunterkünften untergebracht wurden. Eines davon war das Flüchtlingslager „Melioracija“, ein ehemaliges Arbeiterwohnheim, mitten in der Stadt zwischen Neubaublocks gelegen, in welchem ca. 240 Menschen lebten: Muslime und Kroaten aus Bosnien und vor allem Kroaten aus der serbisch besetzten Krajina. Letztere hießen offiziell „Vertriebene“ und besaßen einen höheren Status als die Flüchtlinge aus Bosnien, was direkte Auswirkungen auf Unterhaltszahlungen, Versorgung etc. hatte. Frauen und Kinder waren wie in fast jedem anderen Lager auch hier in der Überzahl. Vier bis sechs Menschen, meist aus einer, manchmal aber auch aus zwei Familien, teilten sich einen Raum. Es gab nur kaltes Wasser, keine Heizung und zweimal täglich ein Essen. Als Ergänzung dazu führten wir einmal wöchtlich eine Obstverteilung durch.
Innerhalb des Lagers kam es aufgrund der verschiedenen Ethnien immer wieder zu Spannungen und Konflikten, welche sich auch auf die Kinder übertrugen. So hatten wir Freiwilligen hier eine permanente Vermittlungsposition inne und mußten gleichzeitig so neutral wie nur möglich bleiben. Letzteres war angesichts der nationalistischen Tendenzen, sowohl innerhalb des kroatischen Staates als auch ganz konkret bei den Flüchtlingen kroatischer Nationalität, nicht einfach für mich. Unter Kindern und Jugendlichen herrschte eine erschreckend hohe Aggressivität und Gewaltbereitschaft, der Einhalt zu gebieten uns oft schlichtweg die Mittel fehlten. Die Aggressionen richteten sich auch gegen Dinge, die innerhalb des Flüchtlingslagers für alle von Nutzen waren. So wurde, um ein paar Beispiele zu nennen, die Telefonschnur des einzigen Telefons, auf dem Anrufe empfangen werden konnten, mehrmals durchtrennt und schließlich das Telefon selbst mittels Silvesterknallern in die Luft gejagt, Stühle, Türen und Schlösser des Gemeinschaftsraumes zerstört und Tische und Wände beschmiert.
Unser Freiwilligenteam bestand während dieser fünf Monate aus mir und Vera, einer 22jährigen gelernten Schreinerin. Abgesehen von dem Arbeitspensum, welches zu zweit oft kaum zu schaffen war, hatten wir als Frauen auch Probleme, den Aggressionen der zumeist männlichen Kinder und Jugendlichen angemessen zu begegnen, ohne uns lächerlich zu machen.

„Ðacki Dom“, Zenica, BiH

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Figure 1 Dacki Dom
In Bosnien dauerte der Kriegszustand noch an, als ich im Flüchtlinszentrum „Ðacki Dom“ in Zenica zu arbeiten begann. Nahrungsmittel waren knapp und teuer und ab 22°° herrschte Ausgangssperre. Zenica liegt in Zentralbosnien und war nicht von direkten Kriegshandlungen betroffen, weshalb von 120.000 Einwohnern etwa 30.000 muslimische Flüchtlinge waren, die aus ihren meist serbisch besetzten Heimatorten fliehen mußten und nun in Lagern und Privatunterkünften lebten. Größter Arbeitgeber der Stadt war vor dem Krieg das Stahlwerk, in dem nach Kriegsende nur noch zehn Prozent der ehemaligen Belegschaft Arbeit fand. Die wirtschaftliche Lage war desolat, die Arbeitslosigkeit lag bei ca. 80% und die existierenden Arbeitsplätze waren meist Servicearbeiten für internationale NGOs.
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Figure 2 Flüchtlinge in Dacki Dom
In dem ehemaligen Schülerinternat „Dacki Dom“ lebten ca. 120 muslimische Flüchtlinge. Außerdem betreuten wir noch weitere 340 Flüchtlinge, die in Schulen und Kindergärten unter zum Teil katastrophalen Bedingungen untergebracht waren (in einem Klassenzimmer einer Schule lebten bis zu 25 Personen mit all ihrem Hab und Gut). Angesichts dieser humanitären Lage stand in den ersten drei Monaten die Verteilung von Hilfsgütern im Vordergrund unserer Arbeit, da für andere Aktivitäten die Räumlichkeiten fehlten. Neben den Gesprächen mit den Flüchtlingen beschäftigten wir uns hauptsächlich mit den Kindern und spielten, malten und bastelten mit ihnen. Unser Team bestand zu der Zeit aus sechs Freiwilligen mit fünf verschiedenen Nationalitäten, weshalb unsere Arbeitssprachen Englisch und Bosnisch waren. Auch die Koordination der Arbeit in den verschiedenen Lagern erforderte hier mehr Zeit und war aufgrund der Meinungsvielfalt innerhalb unseres multikulturellen Teams oft konfliktreich.

„Banlozi“, Zenica, BiH

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Figure 3 Flüchtlingslager Banlozi
Nachdem viele der kleinen Lager geräumt worden waren, übernahm Pax Christi die Betreuung von zwei neuen Flüchtlingslagern. Eines davon war das am Rande von Zenica gelegene Lager „Banlozi“, in welchem ca. 600 Flüchtlinge in Baracken lebten. Die Baracken waren in sehr gutem Zustand, mit Öfen zu beheizen, und es teilten sich zwischen 6 und 11 Personen zwei Zimmer, Küche und Bad. Allerdings gab es wie überall in Bosnien nur zweimal täglich für je eine Stunde fließend Wasser. Die Flüchtlinge bekamen Grundnahrungsmittel vom UNHCR und konnten selbst kochen. Das in ländlicher Umgebung am Fluß Bosna gelegene Lager bot für die Flüchtlinge etwas mehr Freiraum und sogar die Möglichkeit, ein Stück Land zu bebauen. Auch zu den Einheimischen in den umliegenden Dörfern bestand ein sehr guter Kontakt. Nach Beginn unserer Arbeit entwickelte sich das Flüchtlingslager zu einem Anlaufpunkt für viele Jugendliche der Gegend, was einerseits sehr schön, aber auch nicht unproblematisch war. Unser Team bestand neben mir aus einem Spanier und einer Bosnierin und zwei Kurzzeitfreiwilligen während des Sommers. Für mich war es eine sehr intensive und spannende Erfahrung, in einem großen Lager wie diesem den Kontakt zu und die soziale Arbeit mit den Flüchtlingen eigenverantwortlich aufbauen zu können.

2.3 Arbeitsbereiche

2.3.1 Psycho-soziale Betreuung von Flüchtlingen

Oft habe ich die Erfahrung gemacht, daß dem Krieg entkommenen Menschen ihr normaler Lebensrhythmus teilweise völlig abhanden gekommen ist. Statt dem Gang zur Arbeit oder täglicher Beschäftigung gab es nur noch Essenszeiten und manchmal die Sorge, rechtzeitig da zu sein, wenn es Wasser in den Leitungen gab. Anspruch von uns Freiwilligen war es, sinnvolle Aktivitäten anzubieten und zu initiieren- vor allem für Kinder.
Demzufolge hatte die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen einen hohen Stellenwert in unserer Arbeit. Dazu gehörte in erster Linie die Freizeitgestaltung wie z.B. das Organisieren von Spielen, Sport, Kreativen Arbeitsangeboten und Diskos. Hier erwiesen sich jene Aktivitäten am Schwierigsten, die ein höheres Maß an Konzentration und Ruhe erforderten, obwohl sie meiner Meinung nach zugleich die Wichtigsten waren. Viele Kinder konnten sich nur mit Mühe länger als eine Viertelstunde auf eine bestimmte Sache konzentrieren und waren jederzeit bereit, sich ablenken zu lassen. Auch mehrere Lehrern bestätigten immer wieder, daß die Kinder aus den Flüchtlingslagern, die im Schichtsystem in die normale Schule gingen, extreme Konzentrationsstörungen aufwiesen. Entsprechend waren oft auch ihre schulischen Leistungen, was angesichts der räumlichen Situation in den Lagern allerdings für mich nicht verwunderlich war. Die Kinder hatten keinerlei Rückzugsmöglichkeit, weder für Schularbeiten noch für andere Beschäftigungen. Deshalb waren die von uns angebotenen Aktivitäten auch immer ein Herauskommen aus diesem einen Raum, egal ob für Kinder, Frauen oder Männer. So wurden selbst Hausaufgabenbetreuung und Sprachunterricht (meist Englisch, aber auch Deutsch) gern angenommen. Wir unternahmen regelmäßige Ausflüge, die aus der tristen Umgebung des Lagers weg führten - in die Berge (so sie nicht vermint waren), ans Meer oder auf eine der Inseln (in Kroatien), aber auch mal ins Kino und sogar ins Ballett. Höhepunkte waren z.B. auch eine Sport-Olympiade, das Einstudieren und Aufführen eines Zirkusprogramms und ein Indianertag mit Tipi- Bauen, Schminken, Schatzsuche, Lagerfeuer und Übernachten im selbstgebauten Tipi.
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Figure 4 Jugendliche in Melioracija / Split
Die Jugendlichen nahmen erstaunlich oft und gern an den Angeboten für Kinder teil, so daß wir häufig ähnliche Aktivitäten speziell für Jugendliche anboten, um unnötige Konflikte durch eine zu große Altersspanne zu vermeiden. Spiel- und Gesprächsabende, Disko und Ausflüge waren schnell auch bei Jugendlichen etabliert. Erstaunt hat mich immer wieder, mit welcher Begeisterung und Ausdauer Jugendliche im Alter von 13- 18 Jahren Kinderspiele wie „Hänschen Piep einmal“ oder „Plumpssack“ spielten. Desweiteren wurde von uns in jedem der Lager eine Bibliothek eingerichtet und betreut, wo Spiele, Bücher und Sportgeräte ausgeliehen werden konnten. Obwohl diese Einrichtung von allen Kindern, Jugendlichen und sogar Erwachsenen begeistert aufgenommen und genutzt wurde, gab es auch regelmäßig Probleme durch zerstörte und verschwundene Dinge.
Für Erwachsene organisierten wir in der Hauptsache Angebote, um soziale Kontakte zwischen den Flüchtlingen herzustellen und den Alltag etwas zu beleben. So regten wir die Bildung von Frauenkreisen an, die je nach ihrer Zusammensetzung auch sehr unterschiedliche Qualitäten entwickelten.
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Figure 5 Frauenkreis
Meist waren sie unterteilt in Kreise für Frauen und solche für Bakas (womit liebevoll Seniorinnen gemeint sind). Oft hatten sie nur den Charakter eines Kaffeekränzchens, zu dem wir Kaffee, Saft und Kekse anboten und ansonsten die Frauen reden ließen, wobei es schnell zu heißen Diskussionen über den Krieg, die Politik, das Flüchtlingsdasein und ihre jeweiligen Auffassungen davon kam. Dabei wurde meist gestrickt oder gehäkelt, da wir immer Wolle aus Spendensammlungen vorrätig hatten, die wir an die Frauen verteilen konnten. Eine Frauengruppe traf sich auch regelmäßig zu Leseabenden, andere wiederum zum Singen oder Tanzen.
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Figure 6 old man
Die Situation für die Männer in den Flüchtlingslagern war schwierig,galt es doch, Angebote zu finden, an denen sie sich auch beteiligten. Oft waren es Sport- oder Spielturniere, die Anklang fanden. Schwieriger als mit Frauen war es auch, mit Männern über ihre Gefühle, eventuelle Sorgen und Probleme zu sprechen. Hier spürte man deutlich die Existenz traditioneller Geschlechterrollen, welche in den meisten südosteuropäischen Ländern noch sehr ausgeprägt ist.
Während die Frauen in den Lagern mit Haushaltsführung, Kochen und Kindern genug zu tun hatten, war für die Männer mit dem Verlust ihrer Arbeit, ihrem Haus und Garten auch ein Stück ihrer Identität als Familienoberhaupt verloren gegangen. Wer keine Arbeit hatte (und das betraf die meisten), dem blieben oft nur Alkohol und Zigaretten, um den tristen Alltag im Flüchtlingslager zu bewältigen. Wenn bei uns Freiwilligen etwas zu reparieren oder ein Hilfstransport zu entladen war, waren oft mit einem Mal die Hälfte der männlichen Flüchtlinge anwesend, um ihre Hilfe anzubieten.
Ein Schwerpunkt unserer Arbeit war die Einzelfallhilfe, wann immer sie möglich war. Die Grundlage dafür bildeten die regelmäßigen „Hausbesuche“ bei den Flüchtlingen, durch die wir zu jedem einzelnen Kontakt hatten sowie dessen individuelle Situation und Lebensgeschichte kennenlernten. Häufig erfuhren wir erst in den ganz privaten Gesprächen von den Sorgen und Nöten, die die Menschen hatten. Alte und kranke Menschen besuchten wir regelmäßiger und erledigten Einkäufe u.ä. für sie. Oft konnten wir so gezielt helfen, mal durch die Vermittlung von medizinischer, psychologischer oder rechtlicher Beratung oder durch das Beschaffen eines bestimmten Medikaments, mal durch die Vermittlung zu anderen NGOs oder Behörden, durch Unterstützung bei der Beschaffung von Papieren oder bei Rückkehr bzw. oft auch Ausreise.

2.3.2 Organisatorische Aufgaben

Ein anderer Aspekt unserer Arbeit in den Flüchtlingslagern war das Verteilen von Hilfsgütern an die Flüchtlinge. Dieser Teil der Arbeit war sowohl bezüglich der Koordination als auch der Belastung einer der Anspruchsvollsten. In regelmäßigen Abständen bekam Pax Christi Transporte mit Hilfsgütern wie Kleidung, Schuhe, Nahrung, Hygieneartikel, Spielzeug, Babyartikeln etc., so daß es in den Flüchtlingslagern unablässig etwas zu verteilen gab. Die Organisation der Verteilung - d.h. auch das Erstellen und Aktualisieren der Flüchtlingslisten, die Planung und die Durchführung - lag völlig in unserer Verantwortung. Wir versuchten immer, nach Bedarf zu verteilen, d.h. Bedürftigsten zuerst zu berücksichtigen und dabei gleichzeitig möglichst gerecht zu sein. Dies war immer wieder eine Gratwanderung. Unser leitendes Motiv dabei war die Transparenz. Die Art und Weise, wie und an wen wir etwas verteilten, sollte für die Flüchtlinge einsehbar und nachvollziehbar sein. Daß trotzdem kaum eine Verteilung ohne Unmut und Beschwerden ablief, liegt wahrscheinlich an der Situation, in der sich die Menschen befanden. Wenn man nur das besitzt, was man hat tragen können, dann ist man bereit, um jedes Stück Seife zu kämpfen, was man noch dazu bekommen kann. Als Freiwillige mußte ich lernen, mit offensichtlichem oder heimlichem Betrug umzugehen und wurde so mit Handlungsweisen konfrontiert, die ich vorher nicht kennengelernt habe, weil ich Not und Entbehrung nicht kannte. Besonders schwer war es für mich, mit den menschlichen Enttäuschungen umgehen zu lernen, die aus den oft vollkommen überhöhten Erwartungen in die Organisation und unsere Arbeit resultierten.
Die Arbeit wurde von jedem Freiwilligenteam selbst organisiert und strukturiert. Oft war es davon abhängig, wie lange die jeweiligen Freiwilligen schon da arbeiteten. Diejenigen, die mehrere Monate in einem Lager lebten, besaßen die nötigen Sprachkenntnisse und die Kontakte zu den Flüchtlingen, während die Kurzzeitfreiwilligen vor allem neue Ideen in die Arbeit einbrachten, oft aber auf einen Sprachkundigen angewiesen waren. Jede Woche wurde in einer Teamsitzung die Wochenplanung sowie anstehende Probleme, Konflikte und Termine besprochen. Jeden Morgen gab es außerdem noch eine Besprechung des Tagesplans, wobei konkrete Aufgaben verteilt wurden. In regelmäßigen Abständen fanden Treffen mit unserer Koordinatorin statt, auf denen wir Neuigkeiten, Termine, aber auch Probleme und Konflikte mit Flüchtlingen bzw. innerhalb des Teams besprachen.

3 Kritische Reflexion über die eigene Arbeit

Der einjährige Freiwilligendienst war für mich in erster Linie ein Lerndienst, durch den ich sehr intensive und vielschichtige Erfahrungen machen konnte, und erst an zweiter Stelle der erwartete Hilfsdienst für Menschen in Not. Ich habe durch die Arbeit mit den Flüchtlingen - mit Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und alten Menschen - Einblicke in die verschiedensten Felder Sozialer Arbeit bekommen. Auch die Arbeit selbst war sehr vielgestaltig und reichte von Freizeitgestaltung bis hin zu Begegnungs- und Bildungsarbeit. Durch das offene und freundliche Zugehen auf Andere hatte ich keine Probleme, Kontakte zu den Flüchtlingen herzustellen. Anfangs hatte ich sehr mit der Sprachbarriere zu kämpfen, da ich, als ich in Kroatien ankam, lediglich ein paar Brocken der Sprache beherrschte. Allerdings bewirkten gerade die Flüchtlinge, daß ich das allmähliche Erlernen der Sprache als etwas ungemein Motivierendes erlebte, indem sie jeden Fortschritt lobten und sich freuten, daß sich jemand die Mühe machte, ihre Sprache zu lernen. Bei der Erarbeitung von Angeboten für Kinder und Jugendliche kamen mir meine Fähigkeiten auf musischem und künstlerischem Gebiet sehr zugute. Ich hatte meine Gitarre dabei, was mir vor allem zu Jugendlichen Zugang verschaffte, die sehr gerne sangen.
Bei der Planung von Aktivitäten und Verteilungen hat mir mein Organisationstalent sehr genützt und obwohl das Organisieren oft sehr arbeitsintensiv war, hat es mir sehr viel Freude gemacht.
Da wir immer direkt in einem Flüchtlingslager wohnten, war es sehr schwer, abzuschalten. Wirkliche Freizeit hatte ich nur, wenn ich das Lager verließ, weil ansonsten ständig jemand an die Tür klopfte, um etwas zu fragen oder auszuleihen. Dazu kam, daß wir „Ausländer“ natürlich in dem tristen Lageralltag ständig im Zentrum allgemeinen Interesses standen und jeder unserer Schritte von den Flüchtlingen registriert wurde. Diese extrem hohe soziale Kontrolle machte mir schon etwas zu schaffen. Letztlich konnte jede engere Freundschaft mit einem Flüchtling unserer Arbeit und vor allem unserer neutralen Position schaden, was uns einen verantwortungsvollen Umgang mit uns sympathischen Flüchtlingen und vor allem auch immer wieder Selbstkontrolle abverlangte - auch in privaten Situationen. Als damals 20jähriger fiel es mir besonders bei Gleichaltrigen schwer, mich immer wieder abgrenzen und in gewisser Weise eine Autorität darstellen zu müssen, da ich als Freiwillige in der Arbeit immer auch stellvertretend für die Organisation handelte. Als Frau stand ich immer in dem Zwiespalt, einerseits beständig den Kontakt zu den Flüchtlingen suchen zu müssen, andererseits mich aber gerade gegen die manchmal sehr zudringlichen Männer hart abgrenzen zu müssen. Aus diesem Grunde überließ ich die speziellen Angebote für Jungen und Männer gern den männlichen Freiwilligen, falls es solche gab.
Teilweise habe ich die Arbeit und Auseinandersetzung im Team als anstrengender und nervenaufreibender empfunden als die Arbeit mit den Flüchtlingen selbst. Dies lag vor allem auch daran, daß zu den „normalen“ Meinungsverschiedenheiten auch noch unterschiedliche kulturelle Mentalitäten und Gepflogenheiten hinzukamen, mit welchen ich bisher nicht umzugehen gelernt hatte. Unsere Arbeitszeit belief sich auf sechs Tage in der Woche, was dazu führte, daß ich schon nach fünf Monaten das erste Mal Gefühle des Ausgebranntseins erlebte, welche dann gelegentlich (u.a. nach anstrengenden Aktivitäten) nochmals auftraten. Ein Grund dafür war neben der wenigen Freizeit auch die fehlende Intimsphäre, da auch wir Freiwilligen auf sehr engem Raum zusammenwohnten. Doch alle diese Erfahrungen waren für mich insofern immer auch relativ, weil ich die Situation der Flüchtlinge kennenlernte, welche über mehrere Jahre unter eben diesen Bedingungen zu leben gezwungen waren. Das Zusammenleben mit den Flüchtlingen, die Erfahrung der ihrer Gastfreundlichkeit und Herzlichkeit trotz oder gerade in der Not hat mir viele Anregungen gegeben, über meinen eigenen Lebensstandart und den Umgang der Menschen miteinander hier in Deutschland nachzudenken. Das Erleben verschiedener Kulturen konfrontierte mich auch mit der Frage nach meinem persönlichen Verhältnis zu meiner Nationalität - und dem etwas unangenehmen Gefühl beim Nachdenken darüber - sowie mit der Sichtweise anderer auf mich als Deutsche.
Letztendlich stellt sich mir die Frage, was ich mit meiner Arbeit erreicht habe: Ich habe vielleicht ein klein wenig Abwechslung und Freude in den tristen Lageralltag bringen können, habe manchmal Menschen konkret helfen können. Im besten Fall konnte meine Anwesenheit bewirken, daß auch mancher Flüchtling sich ein Stück mit meiner ihm fremden Kultur auseinandergesetzt hat, wie auch ich mich mit seiner Kultur habe auseinandersetzen wollen und müssen. Vielleicht haben wir dabei auch ein Stück mehr Toleranz etwas Fremdem gegenüber erfahrbar machen können. Realistisch gesehen kann ein solcher Einsatz von Freiwilligen auch nicht viel mehr bewirken. Und doch haben sich schon im Laufe meines Einsatzes meine Ansprüche an eine solche Arbeit verändert. So hat es unsere Arbeit nicht bzw. nur in seltenen Fällen geschafft, die Eigeninitiative der Flüchtlinge zu fördern. Diese Gefahr birgt wahrscheinlich jede längerandauernde humanitäre Hilfe in sich. Bezüglich der Interessen und Angebote an Freizeitgestaltung hätten wir aber sehr wohl eine Eigeninitiative von Flüchtlingen gezielter fördern und fordern können. Das Grundproblem der Freiwilligeneinsätze sehe ich darin, daß sie aufgrund der wechselnden Freiwilligen keine konstante Arbeit gewährleisten können und durch die anfängliche Sprach-, Orts- und Personenunkenntnis jedes neuen Freiwilligen (im besonderen der Kurzzeitfreiwilligen) die Flüchtlinge auf Dauer eher be- als entlasten. Eine effektive Arbeit ist erst möglich, wenn man über eine gewisse Sprachkompetenz im alltäglichen Umgang mit den Flüchtlingen verfügt.
Aber angesichts der politischen und wirtschaftlichen Lage in Bosnien und den noch heute überfüllten Flüchtlingslagern mit Menschen ohne Aussicht auf eine Rückkehr in ihre Heimat muß es nun vor allem darum gehen, mit ihnen eine Zukunftsperspektive außerhalb dieser Lager - und nicht in ihnen - zu entwickeln.

4 Theoretische Aufarbeitung eines ausgewählten Problems

Aus Ermangelung an Literatur zur Thematik der humanitären und sozialen Arbeit mit Binnenkriegsflüchtlingen - die Literatur zu Migranten und Flüchtlingen in Deutschland ist aufgrund ihrer politischen, rechtlichen u. a. Spezifika nicht geeignet - habe ich mich nun einer anderen Thematik zugewandt, die mich während und nach meinem Einsatz sehr beschäftigt hat.
Wie viele andere Freiwillige bin auch ich durch meinen Einsatz sensibler geworden für Fragen nach Ursachen und Folgen von Nationalismus, Krieg und Gewalt. Und damit war für mich immer auch die Frage verbunden, welche Mittel und Möglichkeiten nun in den Staaten des ehemaligen Jugoslawien existieren, die den Weg zu einem friedlichen Zusammenleben und gegenseitiger Toleranz ebnen könnten. Deshalb möchte ich im Folgenden zunächst eine Bestimmung des Friedensbegriffs und der Friedenspädagogik vornehmen und mich dann mit der konkreten Frage der Ausbildung von Friedenskompetenz beschäftigen. Indem ich Anknüpfungspunkte für eine friedenspädagogische Arbeit in Bosnien darstelle, beziehe ich mich aber nicht mehr konkret auf meine Tätigkeit während des Freiwilligeneinsatzes. Das hat vor allem den Grund, daß genau diese langfristig gesehen wichtige pädagogische Arbeit zur Förderung von Toleranz und Friedenskompetenz von uns Freiwilligen im Prinzip nicht oder höchstens ansatzweise geleistet werden konnte.

4.1 Der Friedensbegriff

Fragen um Krieg und Frieden beschäftigen die Menschen zu allen Zeiten. Gleichwohl gibt es bis heute keine einheitliche und verbindliche Begriffsbestimmung darüber, was Frieden heißt. [B→] [→B] vgl. Lutz, D. S.: Was heißt Friedensforschung? in: van Dick, L. (Hrg.): Lernen in der Friedensbewegung, Beltz-Verlag, Weinheim und Basel 1984, S. 135
Es lassen sich grob zwei Denk-und Definitionsrichtungen feststellen, die zwischen einem „negativen“ und einem „positiven“ Friedensbegriff unterscheiden.
Traditionell definiert wird Frieden zunächst als „die Abwesenheit von Krieg“ (eingeschränkter „negativer“ Friedensbegriff), so u.a. auch durch das klassische Völkerrecht und die konventionelle Politikwissenschaft. [C→] [→C] vgl. ebenda, S.135 f.
Nimmt man sich als Beispiel die Situation in Ex-Jugoslawien, so wird schnell deutlich, daß Frieden mehr als nur der Zustand des Nichtkrieges, mehr als bloße „Waffenruhe“ ist. Nach dem erweiterten „positiven“ Friedensbegriff ist Frieden untrennbar verbunden mit der Achtung grundlegender Menschenrechte sowie sozialer Gerechtigkeit und somit unvereinbar mit „personelle(r) und strukturelle(r) Gewalt in ihrem ganzen Spektrum“. [D→] [→D] ebenda, S. 136
Der Friedensbegriff wurde bislang in internationalen Organisationen im Sinne eines Friedens zwischen den Staaten verwendet. Angesichts der Tatsache, daß es in der Gegenwart immer häufiger zu innerstaatlichen Kriegen kommt, wie dies in Ex-Jugosawien, Israel oder Nordirland der Fall ist, muß der Begriff auch den zivilen Frieden zwischen Bevölkerungsgruppen innerhalb eines Staates umfassen. Es muß darum gehen, eine „Kultur des Friedens“ [E→] [→E] Europäisches Universitätszentrum für Friedensstudien (EPU)und die UNESCO-Kommissionen Deutschland und Österreich: Erziehung für Frieden, Menschenrechte und Demokratie im UNESCO-Kontext, Deutsche UNESCO-Kommission 1997, S.12 zu entwickeln. Ein Krieg wird häufig damit begründet, bestehende Konflikte nur mittels physischer oder symbolischer Gewalt lösen zu können. Eine Kultur des Friedens hingegen zielt auf eine Konfliktlösung durch Dialog und Vermittlung. Sie basiert auf der Anerkennung der gleichen Rechte des anderen vor dem Gesetz und der Achtung seiner Würde. Dies gilt für nationale und internationale Konflikte ebenso wie für Konflikte zwischen Personen und gesellschaftlichen Gruppen. Eine Kultur des Friedens läßt sich folglich als „Gesamtheit aller Werte, Verhaltens- und Lebensweisen definieren, die auf der Achtung vor dem Leben, der menschlichen Würde und den Menschenrechten, auf der Ablehnung von Gewalt (und Terrorismus) sowie auf der Achtung der Prinzipien der Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Toleranz und Verständigung zwischen Völkern, Bevölkerungsgruppen und Individuen beruhen“. [F→] [→F] ebenda, S. 12
Falsch wäre es aber, darunter Harmonismus oder die schlichte Abwesenheit von Konflikten zu verstehen, denn letztere beruht ja allzu oft auf offener oder verdeckter Gewalt, auf Problemverleugnung, Unterdrückung und Verdrängung. Es bedarf vielmehr eines Friedenskonzeptes, das eine faire und konsensorientierte Austragung von Konflikten unter vernunftgerechten, die gegenseitige Achtung aller garantierenden Regeln vorsieht, eines Friedenskonzeptes, das eine Streitkultur erlaubt.

4.2 Friedenspädagogik

Friedenspädagogik ist nach A. Heck „die Lehre von den Zielen und Mitteln der Friedenserziehung“. Indem sie eine Orientierungshilfe darstellen und Handlungsanleitungen geben soll, gehört sie zur praktischen Pädagogik. [G→] [→G] vgl. Heck, A.: Friedenspädagogik - Analyse und Kritik, Verlag Die Blaue Eule, Essen 1993, S. 12
Es muß zunächst festgestellt werden, daß es eine einheitliche Friedenspädagogik nicht gibt. Die verschiedenen Ansätze entstammen verschiedenen Fachbereichen und gründen auf sehr unterschiedlichen Menschenbildern und unterschiedlichen Vorstellungen von Gesellschaft. Heck unterscheidet drei friedenspädagogische Richtungen: die individual-moralische, die gesellschaftskritische und die ökologische Friedenspädagogik. [H→] [→H] vgl. ebenda, S.13
Ohne mich nun in eine der Richtungen bzw. deren Kritiken vertiefen zu wollen, möchte ich im Folgenden mögliche Ansätze friedenspädagogischer Arbeit im Hinblick auf die konkreten Bedingungen in Bosnien erörtern.
Es liegt im Wesen jeder Pädagogik begründet, daß sie vor allem auf der Basisebene (in Interaktion mit Individuen oder Gruppen) angesiedelt ist. Hier kann eine Friedenserziehung mit ihren Mitteln, d.h. durch Information, Bewußtseinsbildung, Konfrontation etc. erreichen, daß Personen ihre Denk-und Verhaltensweisen reflektieren und ändern. Sie ist aber allein nicht in der Lage, gesamtgesellschaftliche oder staatliche Strukturen zu verändern. Ein Krieg ist jedoch nicht nur das Resultat individuellen Verhaltens, sondern auch oder vor allem das Ergebnis politischer oder ökonomischer Interessen und bestimmter gesellschaftlich-politischer Strukturen. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, sich über das Ziel im Klaren zu sein, welches man mit seinen friedenspädagogischen Bemühungen erreichen will. Möchte man den Umgang der Menschen untereinander verändern, das zwischenmenschliche Klima verbessern, so sind es in der Hauptsache Ziele sozialen Lernens, die Gewaltfreiheit und Toleranz fördern. Fokussiert man eher die gesellschaftspolitischen Strukturen, die man verändern möchte, ist vor allem politische Bildung zu vermitteln, gesellschaftskritisches Bewußtsein herauszubilden und entsprechendes politisches Engagement zu entwickeln. Gerade wer im Frieden mehr sieht als die Abwesenheit von Krieg, muß die Minimierung und den Abbau struktureller Gewalt (wie z.B. der Politik der ethnischen Trennung in Bosnien), die Förderung von sozialer Gerechtigkeit, Toleranz und Solidarität (über ethnische und religiöse Grenzen hinweg) auch politisch einfordern. Die Schwierigkeit einer engagierten Friedenspädagogik aber liegt in ihren begrenzten Möglichkeiten, über die Basisebene hinaus Einfluß auf die Politik- national und erst recht international- auszuüben. In der Regel wird es deshalb in erster Linie um friedenspädagogische Arbeit auf der Basisebene, d.h. um eine Arbeit mit Einzelpersonen und Gruppen gehen. Trotzallem erscheint es mir unumgänglich für eine erfolgreiche friedenspädagogische Arbeit, neben den Individuen auch gesellschaftspolitische Strukturen zu fokussieren.

4.3 Friedenskompetenz

Friedensfähigkeit bzw. Friedenskompetenz zu entwickeln und zu stabilisieren ist eine der Hauptaufgaben friedenspädagogischer Bemühungen, wobei der Begriff der Friedenskompetenz alle aus friedenspädagogischer Sicht relevanten Dimensionen umfaßt: „die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft, das Handlungsvermögen und den Willen zum Frieden“. [M→] [→M] Weiß, E.: Neue Beiträge zur Friedenspädagogik, Band 2, Kieler Berichte des Instituts für Pädagogik der Universität Kiel, Kiel 1991, S. 13
Diese Worte und ein Blick auf die konkrete Situation in Bosnien verdeutlichen, wie weit die Realität von solchen Überlegungen entfernt ist: Mit dem anhaltend starken Nationalismus, der mit den ethnischen Säuberungen während des Krieges zur Realität gewordenen fast kompletten ethnischen Trennung und dem damit verursachten Binnenflüchtlingsproblem, der wirtschaftlich desolaten Lage u.a. strukturellen Folgen des Krieges sind es denkbar ungünstige Bedingungen für eine Entwicklung obengenannter Friedenskompetenz. Hinzu kommt, daß die individuellen Folgen des Krieges, der Verlust von Familienangehörigen, die Nachwirkungen traumatischer Kriegs-und Fluchterfahrungen, der Verlust von Haus und Arbeit und somit der Existenzgrundlage Erfahrungen sind, die allein der Bereitschaft und dem Willen zum Frieden mit den Angehörigen der anderen Ethnie im Wege stehen. Selbst wenn die Politik bzw. einige Politiker und Militärmachthaber als die für den Krieg Verantwortlichen gesehen werden, so sind dies doch meist die „Gegnerischen“, während die eigenen Nationalistenführer uneingeschränkte Loyalität genießen. Um so wichtiger sind in dieser Situation Bemühungen, eine differenziertere Betrachtung der Konflikte und ihrer Ursachen zu ermöglichen und damit Wege für eine langsame Annäherung zu finden. Dazu gehört es, die Wahrnehmung der Konflikte zu verändern, die durch den Krieg eingeengte und vereinheitlichte Wahrnehmung der gegnerischen Seite wieder zu erweitern und so eine Bereitschaft und ein gegenseitiges Interesse an einer Bearbeitung der Konflikte zu entwickeln.
Erziehung und Bildung zu Friedenskompetenz im Sinne der „Fähigkeit, Fertigkeit und dem Handlungsvermögen zum Frieden“ kann folgende Ziele haben:
Sie erfordert u.a. die Einübung von Selbst- und Fremdverstehen, von Argumentation und demokratischen Umgangsformen, die Förderung von Phantasie- und Kritikfähigkeit, Kognitiver und moralischer Urteilskompetenz, von Aggressionskontrolle, Frustrationstoleranz und politischem Bewußtsein unter Bedingungen, die eine positive Selbstentfaltung ermöglichen. Hieraus ist ersichtlich, daß Erziehung und Bildung zur Friedenskompetenz nicht aus einzelnen Interventionen bestehen kann, sondern einen kontinuierlichen Prozeß darstellt, an dem alle mit Erziehungs-und Bildungsaufgaben betrauten Institutionen gleichermaßen beteiligt sein müssen. Somit kann man Friedenskompetenz durchaus als eine nicht zeitgebundene Bildungsaufgabe und als einen wichtigen Aspekt der sozialen Kompetenz eines jeden Menschen verstehen. [O→] [→O] vgl. Weiß, E., Neue Beiträge zur Friedenspädagogik Band 2, S.14
Dabei spielen die familialen Umgangsformen eine wichtige Rolle, da der Aufbau elementarer Friedensfähigkeit, das Lösen erster sozialer Konflikte bereits sehr früh in der Familie geschieht. So sind es am ehesten Familien, die in einer durch Liebe, Empathie, Herrschaftsfreiheit und Gesprächsbereitschaft bestimmten Athmosphäre für Kinder und Jugendliche befriedigende und entwicklungsfördernde Interaktionserfahrungen ermöglichen können. Deshalb ist es durchaus sinnvoll und wichtig, gerade mit Eltern an dieser Thematik zu arbeiten.
Aber auch die Schule als eine wichtige Bildungs- und Sozialisationsinstanz hat Möglichkeiten, friedensfördernd wirksam zu sein. Die „Vermittlung von Werten, Fähigkeiten und Wissen ist die Grundlage für die Achtung der Menschenrechte und demokratischen Grundsätze, für die Ablehnung von Gewalt, für Toleranz und Verständigung sowie die gegenseitige Achtung zwischen Personen, Gruppen und Nationen“. [P→] [→P] EPU..., Erziehung für Frieden, Menschenrechte und Demokratie im UNESCO-Kontext, S. 28
So kann der Geschichtsunterricht ein Mittel zur Förderung von gegenseitigem Verstehen zwischen den unterschiedlichen ethnischen oder religiösen Gruppen sein, da gerade in Jugoslawien die Ursachen für viele Konflikte weit in die Geschichte zurückreichen und die eigene Geschichte für die Bevölkerungsgruppen heute noch von großer Bedeutung ist. Hierbei spielt natürlich der Krieg und die Nutzbarmachung eben dieser Geschichte zur Legitimation des Krieges eine nicht zu unterschätzende Rolle. Umso wichtiger ist es daher, dieses Problem zu thematisieren und Geschichte hinsichtlich der Ursachen für die derzeitigen Konflikte zu untersuchen und zu vermitteln.
Im Gemeinschaftskunde- und Ethikunterricht kann neben Inhalten wie politischer und reliöser Bildung auch kommunikative Kompetenz und Kompromissfähigkeit trainiert werden. Friedenserziehung muß aber auch Konflikterziehung sein, indem sie beispielsweise durch die Vermittlung gegensätzlicher Positionen und Kontroversen eine kritische Auseinandersetzung fördert, mit Hilfe derer Schüler eine eigene Urteil-und Handlungskompetenz entwickeln können.
Sprache ist ein wichtiges Kommunikationsmittel. Das Erlernen einer fremden Sprache kann eine hervorragende Erfahrung der kulturellen und ethisch- religiösen Vielfalt sein und den Blick über den Tellerrand der eigenen Kultur ermöglichen. Deshalb kann Fremdsprachenunterricht, vor allem wenn er bewußt auch kulturelle Aspekte einbezieht, einen kulturellen Dialog fördern und - indem er interkulturelle Begegnungen ermöglicht - eine veränderte Sicht auch auf die eigene Kultur bewirken. [Q→] [→Q] vgl. ebd., S.30
Andererseits kann auch und gerade eine stärkere Aufmerksamkeit für die eigene Muttersprache (die abgesehen von kleinen Differenzen doch Kroaten, Serben und Muslimen eint und erst im Zuge der ethnischen und nationalen Aufspaltung zu verschiedenen Sprachen erklärt wurde) im Kontext interethnischer Versöhnungsprozesse und der Rückbesinnung auf Gemeinsamkeiten in Sprache und Literatur von zentraler Bedeutung sein.
Trotzallem ist Friedenserziehung und Friedensbildung nicht nur die Aufgabe einzelner Fächer, sondern hat fächerübergreifenden Charakter. Die Stärkung der Fähigkeit der Schüler, Konflikte zu verarbeiten, zu regeln bzw. zu lösen kann durch Themen und Inhalte erreicht werden, weit mehr aber noch durch bestimmte Aktions-und Arbeitsformen und ein Klima, welches Kommunikation, Partizipation und Selbstbestimmung der Schüler ermöglicht. Voraussetzung dafür ist natürlich eine entsprechende Sensibilisierung bzw. Aus-und Weiterbildung der Lehrer, ohne deren Bereitschaft zu friedenspädagogischen Inhalten und Methoden eine solche Pädagogik nicht etablierbar ist. Das bedeutet auch, das Möglichkeiten einer Erwachsenenbildung geschaffen werden, die in einer Nach-Kriegs-Situation wie der in Bosnien ganz besonders wichtig sind.
Vor diesem Hintergrund kann es durchaus eine Aufgabe internationaler Friedensfachkräfte sein, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, das überhaupt eine friedenspädagogische Arbeit in Bosnien möglich werden kann. Dazu kann es gehören, Räume zu schaffen, in denen Gespräche zwischen Mitgliedern unterschiedlicher sozialer, religiöser und ethnischer Gruppen möglich werden. Auch die Stärkung und Beratung lokaler Initiativen in der Friedens-, Demokratisierungs- und Menschenrechtsarbeit ist von Bedeutung, genauso wie die Durchführung von Trainingsprogrammen für Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiter oder Polizisten in gewaltfreier Konfliktbearbeitung. Denn generell und auf längere Sicht kann ein solches Konzept nur Erfolg haben, wenn es auch von lokalen Kräften getragen wird. Nur so kann aus einem Waffenstillstandsfrieden, der nur auf der Trennung der Gegner und der Eindämmung einer latenten Gewaltbereitschaft durch internationale Schutztruppen gründet, ein Frieden wachsen, der auf der Zustimmung der Betroffenen und der gegenseitigen Akzeptanz der ehemaligen Konfliktgegner basiert.